42 Stunden-Woche versus 4-Tage-Woche

Fast jede Branche in Deutschland leidet unter den Auswirkungen des Fachkräftemangels. Wirtschaftsexperten haben dafür vermeintlich eine Lösung gefunden: Die Einführung der 42-Stunden-Woche. Damit beißen sie bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern allerdings auf Granit. Diese präferieren mit der Einführung der 4-Tage-Woche nämlich ein vollkommen anderes Modell: Weniger Arbeit für das gleiche Geld.

Artikel vom 17. August 2022

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Anzahl der Stellenausschreibungen erreicht Rekordhoch

Es gab noch nie so viele offene Stellen wie im Moment. Deutschlands Unternehmen haben im Juni 2022 bei der Bundesagentur für Arbeit 877.000 neue Vakanzen gemeldet. Das sind rund 200.000 mehr als in den Jahren vor der Pandemie. Damit hat es die deutsche Wirtschaft mit einem handfesten Fachkräftemangel zu tun. An allen Ecken und Enden fehlt Personal.

Die Auswirkungen zeigen sich bereits in verschiedensten Bereichen: In der Gastronomie bleiben Biergärten geschlossen, weil Kellner rar sind. In der Tourismusbranche verpassen Urlauber ihre Flüge, weil es an Flughäfen kein Boarding-Personal gibt und in Hotels stehen Touristen bei der Anmeldung ungewöhnlich lange Schlange, weil es an Servicekräften fehlt.

Fachkräftemangel, wohin das Auge blickt

Oder nehmen wir den medizinischen Bereich, wo Patienten Wochen oder Monate auf einen Arzttermin warten. Ältere, pflegebedürftige Menschen hatten es derweil noch nie so schwer, einen Platz im Pflegeheim zu bekommen, weil es auch in der Pflege an helfenden Händen mangelt. Kaum anders sieht es in Kindergärten, Schulen, im Handwerk, der Industrie oder in Verwaltungen aus.

Was tun? Wirtschaftsvertreter wie der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, und Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft, hatten da vor kurzem eine Idee: Warum nicht die Arbeitszeiten erhöhen? Von 40 auf 42 Stunden. Mit einem Schlag könnten auf diese Weise viel mehr Aufgaben bewältigt werden.

Arbeitnehmer präferieren die 4-Tage-Woche

Nur, dass die Wirtschaftsexperten ihre Rechnung nicht mit den deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gemacht haben. Die wollen nämlich etwas völlig anderes: Die Einführung der 4-Tage-Woche, mit der andere Länder längst experimentieren. Zum Beispiel machen belgische Unternehmen vor, wie das Prinzip funktionieren könnte.

Die Gesamt-Arbeitszeit bleibt gleich. „Arbeitnehmer können sich aber entscheiden, ihren Job an vier Tagen zu erledigen, um einen freien Tag mehr zu haben. Wer eine 40-Stunden-Stelle hat, kann etwa montags bis donnerstags zehn Stunden in die Firma gehen und hat freitags frei“, wie in einem Artikel der Süddeutschen nachzulesen ist. "Es geht darum, Arbeitnehmern mehr Flexibilität und Freiheit zu geben", zitiert das Blatt Premierminister Alexander De Croo. Beschäftigte sollen Arbeit und Privatleben besser vereinbaren können.

35 Stunden bei vollem Lohnausgleich

In Deutschland gehen Gewerkschaften noch einen Schritt weiter und diskutieren über ein Modell, bei dem innerhalb von vier Arbeitstagen statt 40 nur 35 Stunden gearbeitet werden soll – aber bei vollem Lohnausgleich. Damit rennen sie bei Arbeitnehmenden offene Türen ein.

Bei etwas mehr als der Hälfte der Deutschen (54 Prozent) stößt diese Idee laut einer Forsa-Umfrage auf offene Ohren. Den größten Anklang findet die 4-Tage-Woche bei Beschäftigten mit höherem Bildungsabschluss und in der Altersgruppe der 30- bis 44-Jährigen. Kein Wunder! In diesem Alter haben viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer jüngere Kinder. Von der 4-Tage-Woche versprechen sie sich eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit und Familie.

Verschärft die 4-Tage-Woche den Fachkräftemangel?

Aber führt die 4-Tage-Woche nicht unweigerlich zu einer Verschärfung des Fachkräfteproblems in Deutschland? Immerhin wird Arbeitszeit damit im großen Stil abgebaut. Nicht unbedingt! In Island gab es bereits einen Feldversuch, bei dem das für Deutschland angedachte Vier-Tage-Modell getestet wurde. Mit verblüffenden Ergebnissen. Zwischen 2015 bis 2019 arbeiteten hier tausende Beschäftigte an vier Tagen in der Woche statt 40 nur 35 oder 36 Stunden - bei gleichem Lohn.

Die Produktivität sank nicht. Im Gegenteil. Das Plus an Freizeit hatte auf die Beschäftigten einen dermaßen motivierenden Effekt, dass diese während der Arbeitszeit umso mehr Vollgas gaben. Auch die Arbeitgeberattraktivität stieg: Im Recruiting lockte das Angebot einer 4-Tage-Woche mehr Talente als vorher an. In Island lief das Projekt so erfolgreich, dass dort inzwischen die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Anspruch auf kürzere Arbeitszeiten haben.

Nachteile der 4-Tage-Woche

Trotz aller Vorteile ist es allerdings fraglich, ob die 4-Tage-Woche wirklich Schule in Deutschland machen wird. Denn Unternehmen stellt das neue Arbeitsmodell vor gewisse organisatorische Herausforderungen, wie diese immer wieder abwehrend betonen. Schließlich müssen die Arbeitszeiten der Angestellten so organisiert werden, dass alle fünf Wochentage abgedeckt sind.

Außerdem sieht es mancher Arbeitgeber nicht ein, Beschäftigten das gleiche Geld für weniger Arbeitszeit zu zahlen. Ein Blick in die Datenbank von stellenonline.de bestätigt: Bislang bieten aus den genannten Gründen nur die wenigsten Arbeitgeber eine 35-Stunden-Woche an. Gerade einmal 400 Jobs von über einer Million geschalteter Stellenanzeigen sind auf 35 Stunden ausgelegt.

4-Tage-Woche: Beispiele aus Deutschland

Dabei gibt es auch hierzulange längst Beispiele, die zeigen, wie gut das Prinzip funktioniert. Das Unternehmen Meier Bauelemente in der Oberpfalz, führte bereits vor drei Jahren die 4-Tage-Woche ein. Von der Umstellung hat das Unternehmen ausschließlich profitiert. Die Mitarbeiter sind seitdem erholter, leistungsfähiger und seltener krank.

Auch das Unternehmen knowhere, bekannt für die KI-Chatbot-Lösung moinAI, führt ab August 2022 die 4-Tage-Woche für seine Angestellten ein. Mitgründer und Geschäftsführer Patrick Zimmermann begründet das wie folgt: „Wir glauben daran, dass die 40-Stunden-Woche bzw. 5-Tage-Woche ein veraltetes Modell ist. Mit zunehmender Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen sind wir in der Lage, in weniger Wochenstunden die gleichen Ziele zu erreichen. Und warum dies nicht durch Freizeit und einer besseren Work-Life-Balance den Mitarbeiter:innen zurückgeben? Natürlich erhoffen wir uns auch im sehr umkämpften Arbeitsmarkt unsere Mitarbeiter:innen fester an uns zu binden und mit dem Alleinstellungsmerkmal der Vier-Tage-Woche ein Vorreiter moderner Arbeitskultur zu sein."

Wer weiß! Vielleicht setzt sich die 4-Tage-Woche ja doch schneller durch als mancher vielleicht glauben mag. In jedem Fall ist sie ein wirksames Mittel, um Ihrer Arbeitgebermarke einen weiteren Attraktivitätsfaktor hinzuzufügen. Falls daher auch Sie zu den Arbeitgebern gehören, die mit dem Modell liebäugeln, vergessen Sie nicht, das Vorhaben in Ihren Stellenanzeigen zu erwähnen. Dann fliegen Ihnen die Bewerberherzen nur so zu – versprochen!

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